Biografie

Von Mythen kann man reden, der Mythos selbst lässt den Anspruch auf Wahrheit in der Schwebe. Ein Kunstprinzip auch und gerade für Kunischs Arbeiten: in der Schwebe bleiben.

Martin Mezger, Esslinger Kunstkritiker und Feuilletonist

Es folgen Auszüge aus einem Essay von Martin Mezger, Esslinger Kunstkritiker und Feuilletonist, Frühsommer 2023.

“ […] Es besteht kein Zweifel, dass der Künstler Matthias Kunisch der Minotauros ist – mit der nicht unbedeutenden Besonderheit, dass er gleichzeitig sein Labyrinth ist. Wer dem Künstler Matthias Kunisch auf die Spur kommen, das Wesen seiner Kunst im Innersten erfassen, auf den Begriff bringen will, den lockt Matthias Kunisch in ein planmäßiges Labyrinth wuchernder Anekdoten. Wie der Orgasmus der kleine Tod, ist „die Anekdote der kleine Mythos“. Sagt Kunisch. Nach dem Höhepunkt – respektive der Pointe – ist man erschöpft und findet den Ausgang nicht mehr. Dass sich der Künstler strategisch wahrt vor dem „Begreifen“ – der definitiven Definition, dem großen Tod, dem erlegten Minotauros –, ist sein Recht. Er hält in der erzählerischen Schwebe, was (und dass) seine Kunst sei. Oder nicht sei.

LEBENSWELT

Wer – wie Kunisch – postuliert: „Es gibt keine Kunst, die keinen persönlichen Anlass hat“, muss diese Anlässe bergen in jenem anekdotischen Erzähllabyrinth, das seine Kunst schweben lässt. Der Begriff Lebenswelt, wie er durch Husserl als vorgefundenes Bezugs- und Alltagsbedeutungssystem seine philosophische Würde erhielt, ist für Kunisch deshalb in zweifacher Hinsicht von Belang. Als Erzähler künstlerischer Anlässe verwandelt er noch das befremdlichste Entfremdende ins Nahgewohnte, das Anders- ins Lebensweltliche. Die jovial-unverbindliche Autorität eines Hochschullehrers, die bürokratische Willkür, welche ihn um einen Studienplatz an der Stuttgarter Kunstakademie brachte, der Zufall, der ihm einen in Wien bescherte, zuvor die Absurditäten einer abgebrochenen Schul- und mäandernden Ausbildungskarriere: So geschildert bekommen sie einen Beigeschmack von Schilda, von törichten, lächerlich bösen Bürgerstreichen, quittiert mit einem Humor, der sie handlich macht, klein und eng, trottelhaft und persönlich.

Kunisch verfügt aber auch über ein umgekehrtes Wandlungsvermögen und das lässt beispielsweise das Kleinstadtvertraute von Esslingen am Neckar in ein kleines Welttheater der Mythologien wachsen. Kulissen und Personal des stadt- und sozialräumlichen Kunisch-Biotops sind nicht einfach, was sie sind, sondern werden zu Aussagen, die sagen, was sie seien – gemäß einer Definition des Mythischen in Roland Barthes‘ Buch „Mythologies“ („Mythen des Alltags“). Jedes beliebige Objekt (und jede Person) kann laut Barthes durch diese Verschiebung ins Zeichenhafte zum Mythos werden. Der Intendant der Esslinger Landesbühne, der den von Matthias Kunisch geschnitzten Original-Wanderstab Friedrich Hölderlins noch nicht mal als Jux goutieren, geschweige denn im originalen Ernst erkennen konnte; die Erbin aus einer ehemals großen Esslinger Industriellenfamilie, die ihr mürbes  Reich der aufgelassenen Fabrikbauten gleichsam aus der Zeit herausnimmt und den staubig-lichten Hadesolymp dem Künstler als Atelier und Gehäuse zuweist; die Gründerzeitvilla als familiäres Sanierungs- und Investmentprojekt; die Schnitzerschule in Michelstadt im Odenwald als eine „Entdeckung“ auf der Sinn- und Selbstsuche-Odyssee des jungen Kunisch; der ältere (und anerkannte) Esslinger Künstlerkollege als Wegweiser: Im Anekdotenkosmos Kunischs erscheinen sie wie ausgestanzt aus der Wirklichkeit, wie durch einen kaum merklichen Riss getrennt vom lebensweltlichen Inventar; ähnlich einigen Kunstprojekten, die Kunisch angetragen oder von ihm realisiert wurden – freilich mit dezidierter Verfremdungsabsicht: zum Beispiel eine Vaporetto-Station im Esslinger Klein-Venedig, einem im Einheimischenjargon so genannten Neckarkanal; oder der Frachter Diotima in der Hölderlin-Schleuse mit dem Café Hyperion im Wärterhäuschen; oder die Gipsbüste des 75-jährigen Mozart, der in seinem 35. Lebensjahr für tot erklärt wurde, seither undercover lebte und jetzt mit dem jungen Georg Büchner eine revolutionäre Freiheitsoper plant.

All diese Gegenstände, Rollen und Figuren des Lebens wie der Kunst sind heterogene Elemente, die eine ganz andere – mythische – Geschichte erzählen könnten. Aber vorerst sind sie nur teilweise zur Handlung verkettet, nur unvollständig vernetzt. Bis auf weiteres verharren sie in labyrinthischer Unordnung.  

Dasselbe gilt in noch gesteigertem Maß für die familiären Verhältnisse, in die Matthias Kunisch am 26. Juli 1961 hineingeboren wurde. Dabei täuscht das Datum eine unvollständige Faktizität vor. Denn bereits ein Jahr vorher wurde den Eltern ein Sohn geboren, der laut der Erinnerung – oder Rückprojektion? – seines Bruders denselben Namen tragen sollte. Er starb noch während der Hausgeburt, der überlebende Matthias hat das Kindergrab oft besucht. Eine denkwürdige Identität in der Duplizität.

Ferner zählen zur Kunisch’schen Familienaufstellung: ein jüdischer Urgroßvater, eine Brünner Architektendynastie, Freidenker und ein diesem Milieu entstammender Vater, der nach Vertreibung und todesmarschartiger Flucht aus der mährischen Heimat in Württemberg landete und sich dort zwecks Eheschließung dem geistlich herrschenden Pietismus fügte. Von mütterlicher Seite kommen die Frommen im Lande ins Spiel: Allversöhner, die keine menschliche Grenze für das Erlösungswerk des Herrn kennen, Gottesfürchtige jeglicher Couleur innerhalb der sich permanent zerstreitenden und fraktionierenden Gemeinschaft, nicht zuletzt ein eifrig missionierender Großvater, der nach dem Krieg Nazi-Akten durch Verbrennen verschwinden ließ.

Bis Anfang 20 war Matthias Kunisch geprägt vom Pietismus, vom fundamental geoffenbarten, fundamentalistisch mächtigen Wort, von der Last der Erbschuld und der Ungewissheit zwischen gnadenloser Prädetermination und Gnadenwahl. Der Ausgang aus der nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit war für ihn die Umkehrung des Spießes: Bot das Wort schon nicht die Gewissheit, die es versprach, erklärte es Kunisch gleich ganz zum Mythos. Diese Befreiung trägt nicht die Züge einer Emanzipation, sondern einer Veranschaulichung, die ihre Gegenstände darstellbar, erzählbar und damit handhabbar macht.

Von Mythen kann man reden, der Mythos selbst lässt den Anspruch auf die Wahrheit in der Schwebe. Ein Kunstprinzip auch und gerade für Kunischs Arbeiten: in der Schwebe bleiben.

Jenseits allen Psychologisierens (oder Schlimmerem) leistet Kunischs Familiengeschichte ihren vorzüglichen Beitrag zu jenem Bestand an heterogenen Elementen, die sich aus labyrinthischer Verstrickung zur mythologischen Erzählung sortieren ließen, wäre dies die Absicht des Künstlers.

Sein Labyrinth ist ein ambivalenter Ort: Schutz und Gehäuse, aber auch Gefängnis und Dunkelheit. Nicht minder ambivalent wäre demnach die Flucht: Befreiung, aber mit Risiken behaftet. Freilich kennt man die mythische Methode des Wieder-Herausfindens aus dem Labyrinth: den Faden der Ariadne. Offenkundig ist dabei das Risiko des Reißens, der entstehenden Lücke in der Markierung des Rückwegs. Das Bild des gerissenen Fadens avancierte in den 1980er-Jahren denn auch zum Symbol der postmodernen Unübersichtlichkeit, dem Befinden eines definitiven Verlusts an orientierendem Fortschritt und historischer Linearität. Größer ist das Risiko, wenn der Faden nicht reißt: das der unentrinnbaren Bindung. Man wird an der Leine geführt, unterliegt totaler Kontrolle, ist permanent on line. Die Befreiung aus dem Labyrinth endet in neuer Unfreiheit. Der Mythos hat auch dieses Risiko festgehalten, allerdings verkleidet im Bild des Geschlechterkampfs: Theseus, dem die in ihn verliebte Ariadne den Faden flocht, so dass er den Minotauros töten und dem Labyrinth entkommen konnte, setzt seine Retterin auf einer einsamen Insel aus, um die Bindung zu lösen.

Ähnlich verknoten sich die beiden Risiken – und das sei ohne spielerische Ironie gesagt – im Leben Matthias Kunischs. Fünfmal riss der Faden, fünf Beziehungen zu Frauen zerbrachen, fünf hoffnungsvoll begonnene Wege der orientierenden Liebe wendeten sich zurück ins ausweglose Labyrinth. Tragische Verstrickungen holten für Matthias Kunisch die determinierende Gewalt des Mythos in die Wirklichkeit: der Tod eines seiner beiden Söhne durch eine seltene unheilbaren Krankheit, die – letztlich unwahre – Prophezeiung, danach nie mehr künstlerisch arbeiten zu können, die Realität, sich vorerst mit ruinöser Knochenarbeit über Wasser halten zu müssen, weil die lange Pflege des todkranken Kindes den Künstler Matthias Kunisch tatsächlich aus den Terminkalendern und Kontaktverzeichnissen des Kunstbetriebs katapultiert hatte.

All diese Lebensgeschicke gingen niemanden etwas an, verwandelte sie Kunisch nicht in künstlerische Praxis: nicht zu einem kompensatorischen Zweck, nicht, um eine empathische oder psychologische Deutung zu provozieren, sondern als Struktur. Das Zerbrochene der Lebenserfahrung gibt sie vor. […]“

Ganzen Essay herunterladen

Tabellarischen Lebenslauf herunterladen