Große akademische Untersuchung des Herrn Sisyphos anhand von 43 Fragmenten in relativem Verhältnis zum Universum (1980-2023)
1980-2023, überlebensgroßer Gipsabguss und 12x30m digitales Kunstwerk, virtueller Ausstellungsraum, Privatbesitz
Sisyphos ist als umfassender Werkkomplex zu betrachten, der über mehrere Jahrzehnte hinweg entstand. Zur Gruppe der Sisyphos Arbeiten gehört neben diversen Modellen, Vorstudien, Zeichnungen und einzelnen Monumentalfragmenten die 2023 fertiggestellte Plastik. Der Kunstharzguss wird ab dem 30. November 2023 in der Gipsabgusssammlung auf dem Schloss Hohentübingen zu sehen sein. Die etwas überlebensgroße Plastik ist der Ausgangspunkt einer fragmentierten Monumentalplastik, die als Ganzes nur im digitalen Raum sichtbar gemacht werden kann.
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Antiker Kanon im Dialog mit zeitgenössischer Bildhauerei und neuster Technik
Die ‚heimliche‘ Zustellung des Sisyphos Gipsabgusses des Künstlers Matthias Kunisch in die Dauerausstellung der Sammlung für klassische Archäologie ist der physische Ausgangspunkt eines großangelegten Werkkonzeptes, das neben der ausgestellten Plastik monumentale Fragmente und eine aufwändige virtuelle Erlebniswelt beinhaltet, in der Besucher:innen das Werk und seine Einzelteile aus einer völlig neuen Perspektive erkunden können.
Die Beschäftigung mit Sisyphos begleitet Matthias Kunisch seit den 80er Jahren, in denen die ersten Modelle entstanden. In immer wiederkehrenden Anläufen entstanden einzelne Elemente, Konzeptionen und Modelle der Arbeit. In der dem Guss zugrunde liegenden zentralen zunächst in Ton und Stahl gearbeiteten Figur treibt Kunisch die Mimikry erfolgreich in Form und Materialität auf die Spitze: Während der hellenistische Sisyphos seinesgleichen im Antiken Kanon sucht – das Motiv des „ewig scheiternden Optimisten“ wurde in der klassischen Bildhauerei äußerst selten realisiert (siehe hierzu den Katalogbeitrag von Herrn. Prof. Dr. A. Heinemann) – bleibt die Frage, ob Sisyphos den Stein erfolgreich anschiebt, daran zerbricht oder den göttlichen Wettkampf sogar genießt, in der Darstellung unbeantwortet: Sisyphos berührt den Stein eben gerade so, sachte, fast zärtlich, während sein ganzer monumentaler Körper vor Anspannung bebt.
Matthias Kunisch konzipierte eine Monumentalplastik, die eine neue Diskussion über eine jahrzehntelang gemiedene bildhauerische Sprache anregt. Was bedeutet monumentale Kunst heute?
Die überlebensgroße Plastik ist das Anschauungsmodell und der Ausgangspunkt einer
gedachten Monumentalplastik, deren einzelne Fragmente (beispielsweise ein Fuß, die
Lenden etc.) etwa 3m messen. Im virtuellen Ausstellungsraum können die Figur und einzelne Fragmente in seiner ganzen Dreidimensionalität erkundet werden.
Die ca. 12m hohe und 30m lange Monumentalplastik wird zu keinem Zeitpunkt physisch als Ganzes existieren. Die einzelnen Fragmente dagegen, können als digitale Kunstobjekte (NFTs) oder als materialisierte, reale Objekte erworben werden. Dadurch entstehen ganz individuelle Sisyphos-Werkteile, denn die Käufer:innen erhalten die Kontrolle über die Form, Haptik und Gestalt des Werkes, indem das Fragment und Zielmaterial der Materialisierung individuell festgelegt wird. Aber Matthias Kunisch geht noch weiter: Mit dem Erwerb eines digitalen Fragments, erlangen Besitzer:innen auch Kontrolle über die 3D Datei selbst und werden somit dazu eingeladen dieselbe weiter zu verwenden, zu inszenieren – zu reproduzieren?
Der digitale Sisyphos wird förmlich zum Ausgangspunkt seiner absoluten Vervielfältigung, seiner globalen Mobilisierung, seiner Demokratisierung, wenn man so möchte.
Teile des Sisyphos-Werkkomplexes wurden unter anderem 2021 im Rahmen der Ausstellung „Museum auf Probe“ des Esslinger Kunstvereins in der Villa Merkel in Esslingen. Martin Mezger schreibt in der Esslinger Zeitung am 16.04.2021 über diese Arbeit:
„Der wahre Künstler der Stunde ist aber Matthias Kunisch, der zwar schon seit etlichen Jahren dem Mythos von Sisyphos, dem ewig scheiternden Optimisten, bildnerisch auf der Spur ist, damit aber am sichtbarsten in der unsichtbaren Schau die Corona-Aktualität auf den Punkt bringt. In kolossalischer Renaissancehaftigkeit schuf Kunisch fragmentarische Riesenfüße aus Styropor als leichtem und billigem Marmorimitat, ebenso wuchtig das Wandbild mit der Vierfach-Sequenz des seinen Stein wälzenden Verdammten. In einer Kleinplastik rollt er ihn über die Villa Merkel. Klassischer Humanismus, klassizistische Ästhetik, sinnfreier Heroismus fügen sich zu bitterer Ironie, wo das Monumentale mickrig und das Kleine vernichtend werden kann.“
Ein virtueller Rundgang durch die Ausstellung ist hier zu sehen: Filmbeitrag auf Vimeo ansehen (zu Matthias Kunisch ab min 5:40)